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Was sehen wir, wenn wir glauben? Pt. 4 Offenheit und Realismus

4. Offenheit und Realismus

Einige Monate sind schon ins Land gegangen seit dem letzten Blogpost über die Frage: „Was sehen wir, wenn wir glauben?“. Und in den vorigen Posts (1) (2) (3) wurde die Frage bisher erst indirekt beantwortet.

 Was sehen wir eigentlich, wenn wir glauben?

Zuerst muss man vielleicht sagen: nichts, was nicht alle anderen auch sehen.

Wir sehen die gleiche Welt, wir machen die gleichen Erfahrungen, wie alle anderen Menschen auch. Wir haben keine verrückte mystische Erfahrung einer ganz anderen Welt. Stattdessen wird die Erfahrung dieser Welt ver-rückt. Man kann sagen: wir sehen keine andere Welt, sondern diese Welt anders.
Oder mit dem Theologen Eberhard Jüngel gesprochen: wir machen keine Sondererfahrung, sondern eine „Erfahrung mit der Erfahrung“.
Das heißt: wie für alle anderen Menschen ist die Welt für uns die gleiche „schrecklich Schöne“ und „ganz schön Schreckliche“, aber wir sehen, was wir glaubend, liebend, hoffend sehen, mit anderen Augen.

Ein Punkt davon ist die Offenheit unserer Wahrnehmung.

Unsere Wahrnehmung der Welt und anderer Menschen kann sich zu einem geschlossenen Weltbild verfestigen, in das wir dann auch andere Menschen ein-ordnen. Und vermutlich kann niemand von uns ohne so ein Welt-Bild leben. Wenn unsere Wahrnehmung völlig ungeordnet wäre, wenn wir keine Raster und Filter hätten, würde alles auf uns einströmen und würde unsere geistige Gesundheit und unsere Handlungsfähigkeit zerstören. Aber Weltbilder können unsere Wahrnehmung so verengen, dass wir anderen Menschen und unserer Umwelt überhaupt nicht mehr unvoreingenommen wahrnehmen können. Ein Weltbild kann unempfänglich werden für neue Impulse. So können wir die Offenheit unserer Wahrnehmung fast vollständig verlieren.

Jetzt liegt es nahe, den christlichen Glauben als ein solches Weltbild zu verstehen. Und natürlich, wenn wir gesagt haben, dass wir die Welt anders sehen, dann klingt das doch nach einem festen Weltbild.

Doch besteht der Glaube auch aus Impulsen, die unser Weltbild irritieren. Wenn es beispielsweise heißt: 
„Du sollst dir kein Bildnis noch irgend ein Gleichnis machen, weder des, das oben im Himmel, noch des, das unten auf Erden, oder des, das im Wasser unter der Erde ist.“ (Ex 20:4)
 Hier wird vor einem allzu festen Weltbild gewarnt. Ein festes Weltbild hat damit zu tun, dass man einen Aspekt der Welt nimmt und diesen absolut setzt – aus diesem einen „Götzen“ macht. Ein festes Bild beraubt der Welt und anderen Menschen ihre Möglichkeit sich zu entwickeln und zu bewegen. Ein Bildnis machen heißt den Dingen ihre Rätselhaftigkeit nehmen um sie ganz in den Griff kriegen zu wollen. Sich ein Bild machen heißt, dass wir unserer Welt die Möglichkeit nehmen und sie ganz und gar unveränderlich betrachten. Sich ein Bild machen heißt, den Blick für das Außer-Ordentliche zu verlieren, für alles, was in unsere Gewohnheit die Welt zu ordnen nicht passt. Das heißt auch, jede Lebendigkeit und Bewegung aus der Welt zu verbannen und sie nur statisch nur unbeweglich zu sehen.

Dagegen wird hier gewarnt. So hat der Glauben damit zu tun, unsere festen Weltbilder und unsere scheinbaren Gewissheiten zu irritieren, um unseren Blick zu weiten. Im Glauben, in der Liebe und in der Hoffnung wird die Welt ein Ort neuer Möglichkeiten. Ein Ort, wo die Grenzen des Möglichen und des Unmöglichen verschoben werden und bisher unmögliches möglich wird. Wo Sätze wie „Liebet eure Feinde!“, „Vergebt!“, „Gebt ohne Gegenleistung!“ ihre Absurdität verlieren, weil wir die Welt nicht mehr als einen Ort des Mangels wahrnehmen, wo jeder Mensch zum Konkurrenten um knappe Ressourcen wird.

Es kommt eben darauf an, mit welchem Blick man auf die Welt schaut. Ein Blick kann eine Machtgeste sein: er kann unterwerfen, er kann strafen und disziplinieren. Man denke nur an den strengen Blick eines Lehrers, der ausdrücken kann: „Ich sehe genau, was du gerade tust!“. Davon unterscheidet sich möglicherweise der Blick eines Liebhabers oder einer Künstlerin.

Max Frisch sprach mal davon, dass Liebe bedeutet sich kein Bildnis zu machen.

Es ist bemerkenswert, dass wir gerade von dem Menschen, den wir lieben, am mindesten aussagen können, wie er sei. Wir lieben ihn einfach. Eben darin besteht ja die Liebe, das Wunderbare an der Liebe, dass sie uns in der Schwebe des Lebendigen hält, in der Bereitschaft, einem Menschen zu folgen in allen seinen möglichen Entfaltungen. Wir wissen, dass jeder Mensch, wenn man ihn liebt, sich wie verwandelt fühlt, wie entfaltet, und dass auch dem Liebenden sich alles entfaltet, das Nächste, das lange Bekannte. Vieles sieht er wie zum ersten Male. Die Liebe befreit es aus jeglichem Bildnis. Das ist das Erregende, das Abenteuerliche, das eigentlich Spannende, dass wir mit den Menschen, die wir lieben, nicht fertigwerden“

(Max Frisch, Tagebücher, Frankfurt a.M. 1985, S. 27)

Es gibt also einen Blick, der in anderen ein Geheimnis sieht, einen Blick der sagt: „Du bist mehr als das, was ich oder andere in dir sehen und selbst mehr als das, was du selbst in dir siehst!“
Und es gibt einen Blick, der Menschen festlegt, sie einengt, sie auf eine bestimmte Rolle begrenzt. So ginge es darum, die Menschen und ihre Welt liebevoll und hoffnungsvoll zu betrachten. Es geht darum, nicht fertig zu werden mit der Welt und so ihre Rätselhaftigkeit und Unausschöpflichkeit zu bewahren.

Nicht, weil die Welt dies immer so hergibt. Nicht, weil die Welt ein so wolkiger Ort ist, den man immer nur lieben kann. Nicht, weil die Menschen (uns selber eingeschlossen) zu jedem Zeitpunkt so liebenswert sind. Sondern, weil Gott mit dem Menschen und seiner Welt nicht fertig wird. Und weil ein offener Blick auf die Menschen und ihre Welt auch ein Mittel sein kann, durch das Dinge in Bewegung geraten und anders werden können.

Das wäre eine erste Erkenntnis:

Glaubend/Liebend/Hoffend wahrnehmen heißt, feste Bilder aufzubrechen, heißt: nicht fertig zu werden mit der Welt und den Menschen.

Aber das ist nicht alles. Denn die Offenheit für die Welt und ihre Möglichkeiten heißt nun nicht die Welt idealistisch wahrnehmen. Die Welt unvoreingenommen wahrnehmen heißt auch, sie ungetrübt wahrnehmen zu wollen.

Bonhoeffer schrieb einmal:

„Gott liebt den Menschen. Gott liebt die Welt. 
Nicht einen Idealmenschen, sondern den Menschen wie er ist; nicht eine Idealwelt, sondern die wirkliche Welt. Während wir uns bemühen, über unser Menschsein hinauszuwachsen, den Menschen hinter uns zu lassen, wird Gott Mensch. Während wir unterscheiden zwischen Frommen und Gottlosen, Guten und Bösen, Edlen und Gemeinen, liebt Gott unterschiedslos den wirklichen Menschen.
Den wirklichen Menschen kennen und ihn nicht verachten, das ist allein durch die Menschwerdung Gottes möglich.“
(Bonhoeffer, Dietrich, Ethik, 7. Auflage 1966, S. 75-79.)

Das ist dann die andere Seite. Nicht nur offen zu sein, für das Rätselhafte, sondern auch für das Wirkliche. Dann sucht man nach einem unverstellten Blick auf die Welt. Ohne zu idealisieren oder zu verteufeln. Und daraus folgt zweierlei: die Welt ist ein schöner Ort und ein schrecklicher Ort. Die selbe Person kann ein großes Potenzial für Zerstörung, Grausamkeit und Gewalt haben und für Zärtlichkeit, Fürsorge und Uneigennützigkeit. Und irritierender noch: beides kann im selben Moment auftauchen. Der Mensch und seine Welt ist alles andere als „ideal“, sondern meistens ziemlich banal, bisweilen auch brutal. Mit seinen albernen Leidenschaften, seinem Konkurrenzdenken, seiner Tendenz sich als Zentrum des Universums zu verstehen, mit seiner Angst etwas zu verpassen, aber auch mit seiner falschen Bescheidenheit, mit seiner Tendenz sich klein zu machen, mit seinem Drang sich zu unterwerfen.  Aber manchmal auch mehr als das: mit seiner Grausamkeit, mit seiner Verachtung für alles andere, seiner Unfähigkeit, andere auszuhalten, seinem Chauvinismus, seinem Beharren darauf, wie die Dinge zu laufen haben, seiner Tendenz nicht ohne eine Festes „Wir hier drin“ gegen „Die da draußen“ auszukommen und der Unfähigkeit von sich selbst nur für einen Augenblick wegzuschauen kann der Mensch auch gefährlich sein.

Um den Menschen und seine Welt als gebrochene zu wissen und  ihn dennoch bejahen zu können, grenzt an ein Wunder. Die manchmal banale, manchmal schöne, manchmal traurige und manchmal grausame Realität des Tieres Mensch zu sehen und lachen zu können, hat etwas sehr Befreiendes. Gerade der Humor kann ein Mittel sein, mit Würde in einer gebrochenen Welt leben zu lernen, ohne die Welt schöner oder schlimmer zu machen als sie ist.

Und so bedeutet eine offene Wahrnehmung der Welt auch eine realistische Wahrnehmung, eine ungeschönte Wahrnehmung. Es ist die Zuwendung Gottes zum Menschen und seiner Welt, die Menschwerdung Gottes, die uns diese Spannung aushalten lässt.

So heißt es auch bei Luther: Gott wendet sich nicht der Welt zu, weil sie ein liebenswerter Ort ist, sondern in dem Maße, in dem sich Gott zur Welt wendet, schafft er das Liebenswerte. Während die menschliche Liebe das liebt, was liebenswert ist, ist Gottes Liebe schöpferisch. Das entfaltet Luther in der letzten These der Heidelberger Disputation:

„Die Liebe Gottes findet nicht vor, sondern schafft sich, was sie liebt. (…)

Das ist klar, weil die Liebe Gottes – sofern im Menschen lebendig – liebt, was sündig, schlecht, töricht und schwach ist, um es gerecht, gut, weise und stark zu machen, und so viel mehr sich verströmt und Gutes schafft. Darum nämlich, weil sie geliebt werden, sind die Sünder »schön«, nicht aber werden sie geliebt, weil sie »schön« sind. Menschliche Liebe flieht daher die Sünder und Bösen, Christus jedoch sagt: »Ich bin nicht gekommen, die Gerechten zu rufen, sondern die Sünder« (Mt 9,13). Solcher Art ist die Liebe des Kreuzes, geboren aus dem Kreuz, daß sie sich nicht dorthin wendet, wo sie das Gute findet, um es zu genießen, sondern dorthin, wo sie das Gute den Armen und Bedürftigen austeilen kann.“

Aus der Geschichte vom Kreuz zu leben heißt also beides zu sehen: die manchmal unschöne Realität der Welt und die Möglichkeit zur Transformation, die Zukunftsoffenheit jedes Menschen und die Schönheit des Gebrochenen.

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