Suche
Suche Menü

Was sehen wir, wenn wir Glauben? Pt. 1 – Was ist Wahrnehmung?

Bei EinTagEmergent haben wir versucht einen Workshop-Tag zum Thema „Glaube und Wahrnehmung“ zu gestalten.Le_Caravage_-_L'incrédulité_de_Saint_Thomas

Nachdem schon einige Menschen am Freitag zum gemeinsamen Suppe essen kamen, hatten wir den Samstag damit begonnen, unsere Wahrnehmung zu schulen. Die niederländischen Künstler Rik und Geerard bereiteten einen Einstieg zum Werk von Vivian Maier vor.

Nun scheint das Thema Ästhetik sehr abschreckend und verkopft.

Doch hat Ästhetik zuerst nichts mit Rotwein, Käse und Hornbrillen zu tun, sondern mit unserer Wahrnehmng der Welt.

Wahrnehmung weist auf die leibliche Dimension unseres Lebens hin. Wir nehmen immer mit dem ganzen Körper wahr. Nicht nur mit dem Kopf, mit den Augen oder Ohren.

Wenn wir durch einen dunklen Flur laufen und plötzlich das Gefühl haben, hinter uns steht jemand, passieren verschiedene Dinge: Wir spüren möglicherweise so etwas wie ein Brennen in unserem Rücken; wir spüren förmlich den Blick eines anderen auf uns ruhen. Unser Herzschlag beschleunigt sich, unsere Hände werden schwitzig, wir drehen uns langsam um und beginnen dann erst zu sehen, ob da wirklich jemand ist oder nicht.

Vielleicht ist wegen dieser leiblichen Dimension die Wahrnehmung unser blinder Fleck. Wir reden gerne über das Denken und gerne über das Handeln, aber die Wahrnehmung ist das Dritte zu beiden und hat großen Einfluss auf beide Gebiete.

Wir können gar nicht denken, ohne vorher etwas wahrgenommen zu haben.

Wenn Denken nach-denken ist, dann heißt es, dass man im Denken der Sache nachgeht, die man vorher erlebt hat, die einem widerfahren ist und die man eben wahr-genommen hat. Anders herum beeinflusst die Art, wie wir über die Welt denken auch, was wir wahrnehmen können und was wir übersehen werden. Worauf wir unsere Aufmerksamkeit richten und was wir ausblenden.

Und zuletzt: unsere Wahrnehmung ist ebenso eine ethische Frage: Wen sehen wir? Wie sehen wir andere? Als was sehen wir die Welt? Emmanuel Lévinas brachte das auf die Formel: „Ethik ist eine Optik“.

Wahrnehmung hat außerdem mit unserer Stimmung zu tun.
Stimmung ist nicht einfach Emotion, nicht etwas tief in unserem Inneren.
Stimmung heißt: „Gestimmtsein“ gestimmt wie die Saiten eines Musikinstruments. Oder eben verstimmt.
Stimmung ist, wenn ich auf die Welt antworte, und die Welt in gewisser Weise auf mich antwortet.

Das klingt sehr abstrakt.

Aber man stelle sich vor, wie es sei, die Welt vor allem ängstlich wahrzunehmen. Die Welt ist dann ein Ort voller Gefahren.

Überall lauert potenziell eine Bedrohung für Leib und Leben. Man steigt in den Bus ein, man schaut sich um und sieht diesen komischen Typen da sitzen. Und wird misstrauisch.In der Angst ist unsere Wahrnehmung sehr fokussiert. Unser ganzer Körper ist angespannt. Uns fallen kleine Details an Menschen auf. Wir sind jederzeit bereit, die Flucht anzutreten oder zu kämpfen.Die Welt ängstlich wahrzunehmen, heißt auch, den Menschen mit Misstrauen zu begegnen.

Unsere Wahrnehmung der Welt verändert sich ganz grundlegend, wenn wir „in die Liebe gefallen sind“. Auch, wenn es wie ein Klischee klingt, so ist es doch nicht falsch zu sagen: die Welt ist dann ein anderer Ort. Die Welt wirkt erschreckend frisch. Neu. Es ist, als würde man die Welt neu betreten. Als hätte man die Welt vorher nicht wirklich wahrgenommen. Man nimmt intensiver wahr. Und das kann durchaus auch etwas erschreckendes haben.

Und genau das Gegenteil: wenn wir Langweile haben. In der Langeweile ist unsere Aufmerksamkeit nicht angespannt wie in der Angst, sondern sie ist sozusagen schlaff. Wie ein Muskel, den wir lange nicht mehr trainiert haben. In der Langeweile sind wir völlig abgeklärt, die Welt hat alle Frische, jedes Gefühl des Neuen verloren. Sehr schön stellt das das Buch Kohelet dar. Ein biblisches Buch, dass ein ganzes Weltbild der abgeklärten, zynischen Langeweile darstellt. Ich habe hier mal einen Ausschnitt aus der Bibelübertragung „The Message Bible“:

„The Sun comes up and the sun goes down,
then does it again, and again.
The wind blows south, the wind blows north, the whirling, erratic wind.
All the rivers flow into the sea but the sea never fills up.
Everything is boring, utterly boring – no one can find any meaning in it.
There is nothing new under the sun.“

Was für eine schlimme Sicht der Welt! „Nichts Neues unter der Sonne“.
Alles schon geschehen. Alles schon gesehen.
Es passiert nichts, dass einen noch irgendwie begeistern könnte.
Hier wird eine Situation beschrieben, in der die Welt ihr Gewicht verliert. Alles ist langweilig. Nichts kann unser Begehren wecken, nichts will Leidenschaft, Kreativität, Lebensmut in uns wach rufen. Alles Ungewohnte betrachten wir aus der Perspektive des Futur II: „Es wird neu gewesen sein“. In den Worten Kohelets: „Wohl sagt man: Sieh dies an! Es ist neu! – Es war längst schon einmal da.“ Wenn man diesen Zustand sehr lange ausdehnt, dann hat man so etwas ähnliches wie eine Depression. Diese Welt ist dann ein Ort, der uns nicht mehr anmacht, der uns nichts mehr geben kann. Ein Ort, der auch keine Fremdheit mehr beherbergt. Denn das Fremde ist erst einmal alles mögliche: bedrohend, anziehend, rätselhaft, aber es ist sicher eins nicht: langweilig.

Wenn Wahrnehmung wirklich auch einen ethischen Aspekt hat, dann hat sie mit der Gesamtheit unserer Lebensführung zu tun.

Wenn wir die Welt ängstlich wahrnehmen, dann werden wir sehr vorsichtig leben. Wir werden versuchen, nicht zu viel vor die Tür zu gehen. Nicht zu viel Neues zu tun, weil alles könnte gefährlich sein. Wir werden den Menschen mit Misstrauen begegnen. Jeder Mensch kann mich potenziell belügen oder gefährden. Jeder Mensch wird zum Konkurrenten oder zur Bedrohung. Jede Begegnung ist ein Machtkampf.

Wenn wir die Welt gelangweilt wahrnehmen, abgeklärt, dann können wir zwar vor die Tür gehen, aber wir können es genausogut sein lassen. Denn die Welt ist ein idiotischer Ort, ein Ort, an dem nichts Neues mehr passiert. Wenn einem wirklich „nichts Menschliches mehr fremd“ ist, dann ist auch nichts mehr wirklich interessant, dann übersieht man auch die Unterschiede zwischen den Dingen. Denn selbst, wenn sich die Dinge wiederholen, dann wiederholen sie sich doch immer ANDERS. Wer so gelangweilt durch Leben geht, dem bleibt nur der Whisky und das verzweifelte, idiotische und freudlose Genießen:
„Lasst uns Essen und Trinken, denn Morgen sind wir tot“.

Eigentlich kann man sich in so einer Welt auch nicht engagieren. Denn es ist ja eh alles sinnlos. Die Welt wird sich nicht ändern, die Menschen werden sich nicht ändern und warum sollte man sich einbringen, wenn doch eh nichts Neues in der Welt geschehen kann?

(Im nächsten Post soll es darum gehen, was man denn nun sieht, wenn man glaubt. Und es werden zwei Formen der „Spiritualität mit offenen Augen“ unterschieden).

Schreibe einen Kommentar

Pflichtfelder sind mit * markiert.