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Über Windstille, Wellentäler und die Frage nach dem Wesentlichen

Die Infektionskurven sind nach zehn Wochen Covid-19-Beschränkungen tatsächlich flacher geworden, die öffentliche Irritationskurve hingegen ist immer noch zackig. Ist das nur ein Wellental oder ebbt die Pandemie allmählich ab? Eilige und drastische Entscheidungen haben in dieser Zeit wie lange nicht mehr die Tagesordnung bestimmt. Alard von Kittlitz hat in einem lesenswerten Beitrag auf Zeit Online die Lücken und Leerstellen benannt, die das hinterlässt. Und die Fragen, die sich jetzt in der allgemeinen Erschöpfung stellen:

Es herrscht, Corona sei Dank, eine Sekunde der Windstille. Und ich bin keiner, der jetzt einfach nur um auffrischenden Wind betet. Ich will wissen, wo das Land liegt, in das wir segeln wollen. Ich will, dass darüber breit geredet wird, dass die Parteien sich mal aus dem Fenster lehnen. Nicht erklären, welche Gesetze sie durchbringen wollen, sondern wozu. Was für eine Welt fändet ihr schön? Wie sähe die aus? Wo wollt ihr hin, jetzt, wo alles stillsteht? Woran dürfen wir Euch messen? Für welche Vision sollen wir euch wählen? Für welche Utopien habt ihr Kraft?

A. von Kittlitz
Photo by Robert Metz on Unsplash

Auch Hartmut Rosa spricht im Interview mit dem DLF von der Chance auf eine Neubesinnung und wünscht sich dazu einen wesentlichen Beitrag religiöser Stimmen. Die könnten Alternativen aufzeigen zu überzogener medizinisch-technischer Kontrolle einerseits und einem (bisweilen auch klerikalistisch gefärbten) Verschwörungsglauben andererseits, der wenigstens kognitiv die Oberhand behalten möchte. Beide Zugriffe sind der Versuch, sich eine Welt, die unberechenbar geworden ist, wieder verfügbar zu machen. Die Frage nach dem guten, gelingenden Leben indes haben wir in die Privatsphäre und ins Belieben der einzelnen verwiesen. Kein Wunder, dass Gespräche über Visionen und Utopien uns so schwer fallen. Aber auch Rosa sieht diese „Windstille“, die eine Besinnung auf den künftigen Kurs möglich macht:

Wir haben nämlich in den letzten Jahrzehnten die Erfahrungen gemacht, politisch mehr oder minder ohnmächtig zu sein. Das beste Beispiel ist die Klimakrise, wo es eigentlich einen breiten Konsens gibt, dass da etwas geschehen muss. Schon sehr viele Menschen sagen, das ist eigentlich das wichtigste und vordringlichste Problem. […]
Und jetzt haben wir gesehen, dass man sehr wohl politisch handeln kann und eigentlich innerhalb weniger Wochen und auch ohne Katastrophe. Denn es ist ja nicht das Virus, das die Flugzeuge vom Himmel geholt hat. Wir sind politisch handlungsfähig, wenn die Entschlossenheit groß genug ist, wenn der politische Wille auch groß genug ist.

Hartmut Rosa

Glauben und Handeln

Statt im Blick auf Covid-19 nur die Frage zu diskutieren „Wie kam es dazu – und wie werden wir es wieder los (oder wer ist schuld)?“, wäre es angebracht zu überlegen: „Wozu kann das gut sein?“. Kann all das Verstörende und Schmerzhafte, das sich nicht schönreden lässt, dennoch positive Nebenfolgen haben? Und wenn ja, unter welchen Bedingungen? Das scheint mir der neutestamentliche Blickwinkel zu sein: Nicht die Frage, ob das so kommen musste (als Strafe, als Prüfung, als Machterweis Gottes), sondern die Frage, ob im Vertrauen auf Gottes schöpferische Kraft unnötiges und sinnloses Leid zum Ausgangspunkt einer heilsamen Entwicklung werden kann (Römer 8,28; Johannes 9,3).

Hier gibt es also eine (mögliche) Verbindung von Glauben und Handlungsfähigkeit. Auf eine andere interessante Brücke hat – ebenfalls in der vergangenen Woche – Jonathan Safran Foer in der taz hingewiesen: „Wissen reicht nicht, um zu glauben“. Unsere Untätigkeit und Passivität im Blick auf den drohenden Klimakollaps rührt nicht von einem Mangel an Wissen oder Information her. Sondern daher, dass diese Dinge gefühlt noch weit weg sind:

Meine Großmutter war nicht die Einzige, die wusste, was auf sie zukam. Jeder wusste, dass die Nazis kommen würden, sie wussten nicht, was passieren würde, aber sie wussten, was kommen würde. So wie wir alle wissen, dass das Klima sich erwärmt. Meine Großmutter war die Einzige, die ging, die entschied, dass das nicht nur ein historisches Ereignis in einer Serie von historischen Ereignissen sein würde, sondern fast so etwas wie das Ende der Geschichte. Ich habe sie sehr, sehr oft gefragt, was es genau war, wodurch sie wusste, dass sie etwas tun musste. Sie hatte immer Schwierigkeiten, es zu erklären.

Jonathan Safran Foer

Transformation und Veränderung sind also zu einem gewissen Grad auch Glaubensfragen. Das fängt damit an, welchen Informationen und Stimmen ich Gehör schenke, was ich für glaubwürdig halte. Und geht weiter mit der Frage, für welche Utopien wir Kräfte mobilisieren oder wie weit die Entschlossenheit und der politische Wille reicht.

Ein Ort zum Fragen, Hören, Üben und Antworten

Wir haben das Emergent Forum im September mit „Klima:Krise“ überschrieben, als wir noch nicht wussten, wie sich das gesellschaftliche Krisenklima durch die Corona-Pandemie anheizen würde. Aber das Thema hat nichts von seiner Brisanz verloren. Der Anstieg des Meeresspiegels hat sich beschleunigt, die Kosten fossiler Energiegewinnung sind eine immense Last. Passend dazu lautet der Untertitel denn auch „Make or break“ – jetzt geht’s ums Ganze.

Krise bedeutet, dass eine Katastrophe oder ein Kollaps möglich sind, aber (noch) nicht unausweichlich. Über eine Krise nachzudenken bedeutet, sich der Wirklichkeit zu stellen, die Handlungsoptionen abzuwägen und eine Entscheidung zu treffen. Oder, um die Metapher der Windstille aufzugreifen: Den bisher gefahrenen Kurs zu überdenken und das Reiseziel gegebenenfalls zu ändern. Wissen und Information spielen dabei eine wichtige Rolle. Aber auch die Suche nach einem – beziehungsweise das Einüben in ein – Resonanzverhältnis, das empfänglich ist für die Schönheit der Natur, ebenso wie für das Leiden unserer Mitgeschöpfe und künftiger Generationen von Menschen. Und von da aus ins neue Handeln findet.

Vom 18. bis 20. September findet das Emergent Forum in Nürnberg statt. Haltet Euch das Wochenende also schon mal frei. In den nächsten Tagen und Wochen werden wir dann Details zu Inhalten, Personen, Programm und Anmeldung posten.

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