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Rezension: „Mit Gott in der Stadt.“

Buchbesprechung: Sommerfeld, Harald, Mit Gott in der Stadt. Die Schönheit der urbanen Transformation (Transformationsstudien Bd. 8), Marburg 2016, 681 Seiten. 

Wie kann das Christentum in einer urbanen Umgebung aussehen? Vor welchen Herausforderungen steht es dabei? Wie kann man lokale Netzwerke zwischen Kirchen und partnerschaftliche Beziehungen zum Islam aufbauen? Welche Rolle kann das Christentum im Kontext urbaner Armut und Fragmentierung spielen? Diese Frage beantwortet Harald Sommerfeld in einem fast 700-Seiten starken Buch, dass hier ausführlich besprochen werden soll. 

Vor den Toren der Stadt habe Christus gelitten (Heb 13,11-14). Dort, so heißt es im Hebräerbrief, wo man den Müll und Abfall verbrennt, der bei den religiösen Feiern übrig bleibt. Deshalb, so lässt sich schlußfolgern, ist der bevorzugte Ort für Christen am Rand, an der Seite der Exkludierten. Doch leider heißt dass dann in der Praxis scheinbar auch: das Christentum verortet sich besonders gerne außerhalb der Stadttore. Das Christentum gilt land-läufig als Religion der heiligen Berge, der bürgerlichen Vorstadtsiedlungen und die Kirche möge doch vor allem eins: im Dorfe bleiben.

Jedoch trügt der erste Eindruck. Zwar gab es immer eine christliche Stadtflucht in die Wüsten und ins Suburbane aber wesentliche christliche Erneuerungsbeweungen waren Stadtbewegungen. Das gilt für die Reformation genauso wie für den frühen Pietismus und nicht zuletzt für die Pfingstbewegung. Religiöse Erneuerungsbewegungen zeichneten sich zumeist dadurch aus, dass sie in die intellektuellen und kulturellen Zentren drangen und dabei neue Inhalte mit neuen spirituelle Praktiken, neuen Sozialformen und einer neuen Sozialkritik verbanden. Um dann in der Regel nach zwei bis drei Generationen wieder „stadtmüde“ wurden. So wird das Christentum immer wieder zu einer Insel der Seligen im Suburbanen und Dörflichen und zu einem Hort harmloser Mittelstandsreligiosität (irgendwas mit „Ausgleich“ und „Auftanken“ und „Seele“) und zu einem Rückzugsort aus der Hektik eines komplexen Lebens.

Der Ansatz von Harald Sommerfeld ist ein anderer. Er möchte einen eigenen missiologischen Ansatz für ein erneuertes und erneuerndes Christentum im – primär – urbanen Kontext ausarbeiten.Dazu legt der 63-jährige nun mit dem Buch „Mit Gott in der Stadt. Die Schönheit der urbanen Transformation“ vor, einen praktisch-theologischen Rundumschlag. Dieser ist auch eine Art Bilanz von 20 Jahren Aktivitäten in Berlin und darüber hinaus als Gemeindeberater im ganzen Land.

Man kann Harald Sommerfeld („Haso“) als einen Grenzgänger bezeichnen, der verschiedene Welten kennt, sich auf sie einlassen kann, den jeweiligen lokalen Dialekt versteht und der zwischen verschiedenen Menschen „übersetzt“. Er ist begeisterter Netzwerker, der seine Hauptaufgabe mal so beschrieb: „mit möglichst vielen Menschen Kaffeetrinken zu gehen und so Beziehungen zu knüpfen.“ Außerdem ist er ein öffentlicher Theologe und vielleicht auch so etwas wie ein praktisch engagierter Intellektueller. Als „Post-Charismatiker“ ist er tatsächlich mit der Gabe der „Zungenrede“ begabt: er spricht fließend verschiedene christliche „Theo-lekte“, kann auf Augenhöhe im akademischen Bereich mitdiskutieren, beweist kommunalpolitischen Sachverstand, kann mit Harz-IV-Empfängern sprechen und hat gute Kontakte zu Migrantengemeinden, die für den normalen deutschen Protestanten auf viele Weisen eine Herausforderung darstellen würde. Nachdem er noch einmal Soziologie studiert hat, legt er nun auf stolzen 681 Seiten ein Buch vor, dass in 32 Kapiteln und 4 Exkursen fast schon vollumfänglich die Frage beantworten will, wie ein sozial engagiertes, urbanes Christentum aussehen kann. Dabei greift er auch auf soziologische, psychologische, phänomenologische, exegetische, kirchengeschichtliche, politikwissenschaftliche und sogar auf neurowissenschaftliche Erkenntnisse zurück. Es muss nicht gesagt werden, dass vieles nur angerissen werden kann, doch wirkt die Theorie keineswegs alibi-mäßig. Die Sozial- und Humanwissenschaftliche Forschung wird recht gut mit dem praktisch- theologischen Ansatz des Buches verschränkt und inmitten dieser Theorien finden sich immer wieder best practice Beispiele oder konkrete Geschichten.

Als erstes fällt auf, dass es sich um ein sehr klar gegliedertes, schön aufgemachtes Buch mit Lehrbuchcharakter handelt. Am Ende jedes Kapitels gibt es eine knappe Kapitelzusammenfassung mit bullet Points, so dass man einfach die Zusammenfassungen lesen kann, um dann zu entscheiden, welche Kapitel man genauer lesen möchte. Außerdem gibt es weiterführende Fragen zur Diskussion und Literaturhinweise. Aufgelockert wird der Text durch Grafiken, (farbigen) Bildern, Schaubildern und Tabellen, so dass die Rede von der „Schönheit“ der „urbanen Transformation“ schon durch die Gestaltung plausibel gemacht wird.

Das Buch richtet sich insbesondere an Kirchen(-leitungen) und christliche Aktivisten, die zur urbanen Stadtteilarbeit ermutigt und befähigt werden sollen. So hat das Buch den Charakter einer Ressourcen-Sammlung, die in verschiedenen Situationen konsultiert werden kann. Ein Lesen von Buchdeckel bis Buchdeckel ist nicht erforderlich. Doch ist das Buch auch interessant für alle, die sich mit Problemen wie Gentrifizierung, sozialer Verdrängung, postsozialistischen Mentalitäten und einer Theologie der Stadt beschäftigten möchten. Das Buch ist grob in zwei Teile gegliedert: einer „Sehhilfe“ mit stadtsoziologischen Grundlagen, die helfen möchten, das eigene Umfeld wahrzunehmen, und einer „Gehhilfe“, die sich mit praktisch theologischen Fragen von der urbanen Erneuerung bestehender Gemeinden, dem Aufbau von ökumenischen und interreligiösen Netzwerken, der urbanen Seelsorge, der Frage nach dem Ort von Mission und der Kooperation mit Migrantengemeinden beschäftigt.

Grundidee des Buches ist die urbane Transformation. Hier ist unschwer der Bezug zu den Transformationsstudien von Tobias Faix und Tobias Künkler zu sehen, die einen missionalen Ansatz zur Gemeindearbeit mit sozialwissenschaftlicher Forschung verbinden. Ansatzpunkt der sogenannten missionalen Theologie ist es, Gottes Wirken auch jenseits der Kirchenmauern zu verorten und somit Kirche auf einen Dienst in der Welt hin zu orientieren. Somit geht es um eine urbane Mission der Kirche, diese bestünde nicht allein darin „das Evangelium zu predigen“. Vielmehr setzen sich Christen „für gerechte Löhne oder eine gesunde Umwelt ein, besuchen Kranke, pflegen Sterbende, helfen Kindern bei den Hausaufgaben, beteiligen sich an Stadtteilinitiativen, ziehen in soziale Brennpunkte, werden Teil einer Subkultur, legen Gemeinschaftsgärten an, unternehmen Ausflüge mit Jugendlichen aus sozialen Brennpunkten und unterstützen schwache Familien“ (S. 22f.) Hier wird der Schwerpunkt auf sozialdiakonische Arbeit und Gemeinwesenarbeit gelegt, die aber klassische Formen der Verkündigung nicht ausschließen soll. Doch ist weniger an eine „professionelle“ und „institutionelle“ Diakonie gedacht und mehr an persönliches Engagement von Laien in Zusammenarbeit mit bestehenden Initiativen. Dies ist einer der großen Stärken des missionalen Ansatzes: Christen werden nicht als „Boten Gottes“, sondern zuerst als „Lernende“ gesehen. Sie arbeiten mit anderen Akteuren zusammen und schließen sich gegebenenfalls Bestehenden an. Dabei wird in dem Buch auch vor einer typischen Fehlhaltung gewarnt: vor einem einseitigem Paternalismus, der sich herablässt zu anderen und diesen großzügig und souverän dienen will. Stattdessen hat das urbane Engagement einen „inkarnatorischen“ Grundzug: es ist zunächst und zumeist vor allem „Mitsein“ bevor es „Fürsein“ ist: es hat einen Zug zu einer absichtslosen, solidarischen Nähe aus dem sich dann Projekte für und mit anderen entwickeln können. Dieser Einsatz ist aber nie einseitig gedacht. Theologisch gesagt: die Gabe, die man selbst gibt, das eigene Engagement, ist stets nur Antwort auf die Gabe, die man (auch durch das Zusammensein mit anderen) empfangen hat. Man hört nie auf, primär der Empfangende zu sein. So ist eine zentrale Praxis des inkarnatorischen Ansatzes die Gastfreundschaft, die gemeinsame Mahlzeit, die Vernetzung auf Festen und Parties, das Beisammensein.

Neben den konkreten Inhalten, ist es vor allem eine bestimmte Haltung, die das Buch nahelegt: eine Haltung der Lernbereitschaft, der Offenheit, des Hinschauens. So geht es in einem Großteil des Buches darum, einen Ort wahrzunehmen. Dabei wird eine Typologie von Städten entfaltet, in der auch jeweils „typische“ Problem der Städte angesprochen werden. Anhand von Oberhausen zeigt er die Probleme im Zuge eines Strukturwandels auf, anhand von Wittenberge und Pirmasens verdeutlicht er die Probleme schrumpfender Städten (Niedergang, Perspektivlosigkeit, Überalterung), Wolfsburg, Erlangen und Leipzig dienen als Beispiele für wachsende Städte, anhand von Gotha beschreibt er die spezfisichen Probleme postsozialistischer Städte (biographische Entwertung, Überforderung, Entsolidariserung, Zynismus). In jedem dieser Kontexte werden bestimmte idealtypische Herausforderungen für christliches Engagement und gelungene Projekte dargestellt.  Außerdem gibt es Hinweise auf Formen von kontextueller Theologie vor Ort. An welchen Orten benötigt man eher ein herausforderndes Evangelium, wo ist ein ermutigenderes, zuversichtliches Evangelium gefragt? Das bleibt naturgemäß sehr idealtypisch, verdeutlicht aber in welche Richtung bewusste Kontextualisierung gehen kann.

Berlin dient als Beispiel einer fragmentierten Stadt. Es wird beschrieben wie der Bus der Linie M29 von Grunewald bis zum Herrmannplatz auf seiner Reise sehr verschiedene Welten durchquert. Dies dient als Aufhänger für die Thematisierung von urbaner Polarisierung. Hier werden insbesondere die Erfahrung der Armut, Entwurzelung und der Fragmentierung von Lebenszusammenhängen in den Blick genommen. Bei der Frage nach einem urbanen Christentum betont Haso immer wieder: man darf nicht kulturelle Fragen stellen ohne auch die sozialen (und damit: politischen!) zu stellen. Es geht nicht um ein im Kern individualistisch-innerliches oder konservativ-moralisierendes Christentum, das sich lediglich in ein neues hippes, urbanes Gewand zwängt. Auch wenn das Buch nicht nur die soziale Frage stellen will, so nimmt es doch an zentralen Stellen darauf Bezug. Und das besonders, weil eine der Prämissen des Buches ist, dass Armut heute unsichtbar gemacht wird.  Armut verschwindet aus dem Sichtfeld der Menschen, sie erscheint nicht mehr wie in Zeiten der industriellen Revolution direkt im Stadtbild, sondern ist subtilen Verdrängungsmechanismen ausgesetzt:  prekär Beschäftigte, Hartz-IV-Bezieher und Menschen mit Migrationshintergrund werden an den Stadtrand gedrängt und leben dort in fragmentierten Zusammenhängen, wo eine Vernetzung im Sinne eines Auftretens als geschlossene Gruppe unmöglich scheint. Im Buch wird das zunächst anhand von sozialwissenschaftlichen Analysen vorgestellt. Es ist die Rede von drei Formen der Polarisierung: der Einkommenspolarisierung, der sozialräumlichen Polarisierung (Konzentration von Armut in bestimmten Stadtgebieten) und der Polarisierung der Lebensverhältnisse (in benachteiligten Quartieren gibt es schlechtere Schulen, Wohnungen und signifikant schlechtere ärztliche Versorgung). Doch beschränkt sich das Buch nicht auf diese soziologische Brille, sondern thematisiert das konkrete Erleben von Benachteiligten. Hier ist besonders ein Kapitel über soziale Scham, Entwertung und sozialer Verbitterung interessant (Kapitel 26). Außerdem wird auf die traumatische Erfahrung durch urbane Verdrängung (Gentrifizierung) aufmerksam gemacht. Da ein Ausgangspunkt des Buches der konkrete Raumbezug des Einzelnen ist und dabei auch die „imaginäre“ (das heißt: die Bilder und Erlebnisse, die einen Ort mit der eigenen Identität verknüpfen) und symbolische Bindung zu einem Ort ernst genommen werden, wird hier besonders deutlich, welches Trauma mit Formen der Entwurzelung verbunden sein kann. Dort, wo der Mensch lediglich als rationales Wesen betrachtet wird (Homo Oeconomicus, rational-choice-Theorien) können solche „weiche Faktoren“ nicht in den Blick geraten.

Neben den sozialwissenschafltichen Analysen kommen immer wieder die Stimmen einzelner Stadtbewohner vor. Vom typischen Berliner Yuppie, bis zum Migranten und Obdachlosen wurde einzelne Menschen über bestimmte urbane Erfahrungen befragt. Haso ließ sich beispielsweise von dem Obdachlosen Ronny einen Tag lang durch Halle führen, um zu verstehen, wie ein Obdachloser die Stadt wahrnimmt. Diese Geschichten wirken weder als bloße Illustration einer allgemeinen Wahrheit noch als Ersatz für empirische Forschung. Vielmehr wird anhand von (vielen) Einzelfällen demonstriert, wie eine „inkarnatorische“, eine lernende Haltung aussehen kann.

Im zweiten Teil geht es um konkrete praktisch-theologische Anstöße zu Stadtteil-Engagement.

Zunächst soll ein systemisches Denken in Bezug auf die Stadt zur Darstellung kommen. Lebendige Städte sind hochkomplexe, selbstorganisierte Systeme, in denen einfache Interventionen oft unvorhergesehene Effekte haben können. Deshalb wird gewarnt vor einfachen, naiven und unkritischen Formen des Engagements. Gleichzeitig wird aufgezeigt, wie eine christliche grundierte Hinwendung zur Stadt aussehen kann. Dies beginnt mit der Wohnungswahl. So wird in einem Kapitel die Frage diskutiert, ob Christen freiwillig in benachteiligte Quartiere ziehen sollen und mit welchen Hürden sie dabei zu rechnen haben.

Diese praktischen Fragen werden ergänzt durch eine Theologie des Ortes. Hier soll eine konkrete Verortung des Christentums skizziert werden. Hier wird deutlich: den Ausgangspunkt bildet ein (eher freikirchlich geprägten?) Christentum, dass sich bisher in der Distanz zum eigenen Ort konstituiert hat. Der Fokus auf Inkarnation und solidarische Nähe macht nur Sinn, wenn diese Nähe nicht schon vorhanden ist. Es gibt aber große Stränge des Christentums, die zumindest von ihrem Selbstverständnis her, die Ortsgebundenheit immer schon beinhalten („Volkskirche“). Hier ließe sich zwar fragen, ob diese Nähe zu den Menschen verloren gegangen ist, jedoch muss auch eine zweite Bemerkung gemacht werden. Es kann zuviel Nähe und Identifizierung mit einem Ort geben. Man kann eine Solidarität mit einem Ort so sehr hochfahren, dass man eine Art Heimattheologie betreibt. Dann droht man kulturelle Identitäten (mit ihren Mechanismen der Ausgrenzung und der Abwertung anderer) göttlich zu sanktionieren. Dies ist kein „rein akademischer“ Einwand, sondern eine Lehre, die man zB aus der Beschäftigung mit östlich-orthodoxen Kirchen, aber auch mit dem Kulturprotestantismus bis zum ersten Weltkrieg lernen kann. Wo das Christentum die Distanz zu sozialen Realitäten ganz verliert, droht es immer wieder (symbolisch oder real) die Waffen zu segnen, mit denen eine Gruppe sich gegen eine andere Gruppe wehrt. So macht die Verortung des Christentums nur Sinn vor dem Hintergrund, dass es immer auch Entwurzelung („Wir haben hier keine bleibende Stadt“) und kritische Distanz ist und neben der lokalen auch globale Solidarität übt. Das scheint mir notwendig, weil sonst die Gefahr besteht, bestimmte Orte oder bestimmte menschliche Projekte quasi göttlich zu legitimieren. Dann wird man zu einer Schönfärberei von menschlichen Projekten neigen, bei der dann alle negativen Seiten  ausgelassen (weil: Gott ist ja dabei) und die Möglichkeit zur Kritik genommen wird. Das ganze Buch ist Ausdruck eines Problembewußtseins für diese Seite von sozialen Realitäten, aber ausgerechnet im theoretisch-theologischen Teil kam mir dieser Aspekt zu kurz.

Ein wirklich tolles Kapitel beschäftigt sich aus exegetisch-historischer Sicht und aus netzwerktheoretischer Sicht mit den Randgestalten und Brückenbauern, die für eine urbane Arbeit sehr wichtig sind, da sie Welten zusammenbringen und neue Netzwerke knüpfen. Hier macht das Buch mal so nebenbei einen Vorschlag für ökumenische Kooperation, den ich absolut bedenkenswert finde: durch den Fokus auf gemeinsame Arbeit vor Ort könnte ökumenische Netzwerkarbeit auf ein Ziel außerhalb der Beschäftigung mit sich selbst ausgerichtet werden. Die Idee von lokalen Stadtnetzwerken, die im besonderen das Wohl des Ortes/der Stadt vor Augen haben, finde ich sehr begeisternd. Denn dadurch kann ein Gefühl der Kooperation  und Arbeitsteilung entstehen, welches die in Großkirchen noch stark vorherrschende Konkurrenzsituation („Warum gehen die Leute zu den Freikirchen? Wieso wird unsere Arbeit nicht wahrgenommen?“) entschärfen kann. Dabei wird auch dargestellt, wie verschiedene Formen von Biographien und räumlicher Verwurzelung verschiedenen Typen von kirchlicher Zugehörigkeit nahelegen. Dort, wo die Lebenswelt durch Flexibilisierung und Mobilisierung geprägt ist, macht u.U. eine parochiale Ortsgemeinde, die auf dauerhaftes Engagement ausgerichtet ist, wenig Sinn.

So besteht der zweiten Teil dann aus konkreten Perspektiven für eine christlich grundierte Stadtteilarbeit. Dies beginnt mit der Stadterkundung und geht über die Frage nach der Neuausrichtung von bestehenden Gemeinden über das Engagement in der Kommunalpolitik, die Vernetzung mit Migrantengemeinden, die Zusammenarbeit mit muslimischen Initiativen bis hin zu Fragen nach einer urbanen Seelsorge (3 Kapitel!) und einer urbanen Spiritualität.

Ziel ist eine positive Veränderung der Stadt durch eine engagierte Stadtteilarbeit, die sowohl viele dezentrale Initiativen „bottom-up“ als auch (kommunal-)politische Veränderung „top-down“ benötigt. Es wird auch skizziert, welche Formen von Engagement schwierig sind. So wird die Initiative pro-Reli genannt, die sich für die Einführung eines konfessionellen Religionsuntericht in Berlin engagierte. Trotz der guten Absichten der Initiative, kam dabei in der Stadt der Verdacht auf, dass sie lediglich die Interesse eines konservativ-bürgerlichen Milieus vertrat und es weniger um den Dienst an den Bedürfnisse der Bevölkerung ging. So warnt das Buch davor, dass unsensibler Einsatz für andere schnell in Kulturkämpfe ausarten kann. Allerdings wurde auch als Beispiel für den Transformationsgedanke die Abschaffung der Sklaverei durch die Abolotionisten genannt – fraglos ein Kulturkampf. Hier stellt sich also die Frage: gibt es Kriterien, die dabei helfen zu unterscheiden, wann eine soziale Bewegung, gesellschaftliches Engagement und emanzipatorischer Protest hilfreich ist und wann nicht? Gerade, wenn es um die (religös grundierte) gesellschaftliche Mobilisierung einer Gruppe geht, ist das eine zentrale Frage. Denn durch so eine Mobilisierung eröffnen sich auch Möglichkeiten zum Missbrauch. Auf der Suche nach konkreten Kriterien wäre z.B. die Befreiungstheologie und oder die öffentliche Theologie Miroslav Volfs aufschlussreich. Mal drei Vorschläge für Kriterien:

  • (sehr allgemein): entspricht ein Engagement dem Zeugnis von der Person und dem Werk Jesu Christi?
  • (konkreter): dient es vor allem dem eigenen Machterhalt, der eigenen Ausbreitung, der Selbstvergrößerung? Oder geht es darum, eigene Ansprüche zurückzustellen für andere (Mk 10,35-45)?
  • Kommt ein Engagement den „Geringsten“ zu Gute, den Exkludierten oder Randständigen einer Stadt oder eines Stadtteils oder den Fremden, oder ist es vor allem auf die „Mitte“ fixiert?

Die Frage nach den Kriterien für ein bestimmtes transforatives Engagement scheint mir wichtig zu sein, um auch schädliche Formen des Engagements (PEGIDA) markieren zu können.
Auch gilt es immer mal wieder an die Systemfrage zu erinnern: andauernd stößt man in den Analysen des Buches auf politisch gesteuerte „Systemfehler“. Man kann durchaus darauf hinweisen, dass es auch Systemfragen gibt, die man nicht einfach durch engagierte Arbeit im Kiez oder in der Kommunalpolitik ausgleichen kann. Dadurch könnte man auch auf ein politisches Umdenken eines im Mittelstands beheimateten Christentum hinwirken.

Trotz dieser Rückfragen bin ich von dieser „Theologie der postmodernen Stadt“ sehr begeistert. Es handelt sich um ein Buch, dass Zeugnis ablegt für die christliche Hoffnung einer eschatologische Transformation der Welt, die sich auch schon jetzt in konkreten Zeichen der Veränderung städtischer Realität zeigt. Das Buch ist eine Ressource für konkrete Stadtteilarbeit und lehrt zunächst einmal den Blick für die Stadt. Gleichzeitig ist es eine kurzweilige, bisweilen auch witzige Lektüre, die stets den eigenen Blick weitet und manche Sehgewohnheiten irritiert und dabei bestens unterhält. Es wäre wirklich wünschenswert, wenn sich auch nur ein Teil des Christentums in Deutschland für die urbane Realität öffnet und neue Initiativen zur Vernetzung, zur sozialdiakonischen Stadtteilarbeit und zur Beziehungspflege mit anderen startet. Das Buch lässt einen hoffen, dass es zu neuen  ökumenischen, interreligiösen und interkulturellen Netzwerken kommt, die sich im urbanen Raum bilden. 

Ich würde auch sagen: viele Erkenntnisse des Buches sind nicht allein auf den urbanen Raum anwendbar und können auch für dörfliche Räume nützlich sein. 

Das Buch wirkt fast schon wie das Lebenswerk eines urbanen, postmodernen Missionars, der seine Geschichten, Erfahrungen und Perspektiven im Gespräch mit Sozialwissenschaften und Theologie vertieft hat und nun vielen Menschen zugänglich machen möchte. Ich halte es für eine sehr wertvolle Ressource und würde mir wünschen, dass das Buch (zumindest in Ausschnitten) in möglichst vielen unterschiedlichen Kirchen Beachtung findet.

(Arne Bachmann)

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