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Was sehen wir, wenn wir glauben? Pt.2. Achtsamkeit?

Zweite Teil: Zwei Formen der Spiritualität mit offenen Augen

https://pixabay.com/de/anschlag-anhalten-achtsamkeit-482702/

CC0 Public Domain

In diesem Teil soll es darum gehen, was wir sehen, wenn wir glauben.

Es soll um eine Spiritualität der geöffneten Augen gehen. Und damit es nicht so langweilig wird, beginne ich mit einer Polemik.

Es gibt heute einen großen spirituellen Trend, die sogenannte Mindfulness. Das scheint mir eine der größten neuen quasireligiösen Bewegungen der letzten Jahre zu sein. Und diese kreist auch um das Thema der Wahrnehmung bzw. der Achtsamkeit.

Dabei lernt man ganz fokussiert zu sein, den Dingen Aufmerksamkeit zu schenken, ganz im Hier und Jetzt zu sein. Man soll nichts bewerten, sondern einfach offen sein, ganz im Körper sein. Sich ganz der aufmerksamen Betrachtung des Gegebenen widmen. Wie die Amelié persönlich den kleinen Dingen Beachtung schenken. Das klingt doch gut und schön unideologisch. Ohne großen „Weltanschauungsbalast.“ So als sei man hier „einfach nur Mensch“ und könnte alle Übermalungen und Entfremdungen der technischen Welt hinter sich lassen.

Aber ich habe auch meine Zweifel. Gerade weil es so unideologisch klingt. So praktisch. Ohne große Dogmen, ohne große Agenda. Es geht ja schließlich nur darum, präsent zu sein. Und vor allem: mal seine Bewertungsmechanismen ausschalten. Und daran ist auch etwas Richtiges: damit man die Dinge noch einmal neu sehen lernen kann, muss man  gewohnte Muster der Bewertung, seine gewohnten Weltbilder und moralischen Reflexe ausschalten. Das kann dazu führen, die Welt neu zu sehen und Menschen neu begegnen zu können. Die Philosophen nennen das Epoché: das Einklammern der eigenen Vorurteile. Aber dieses führt nicht dazu, dass man sein Leben ohne Urteile führt, sondern, dass man die Dinge neu beurteilen lernt. Urteile sind weiterhin nötig, allein schon um schädliche Weltbilder, die entmenschlichen und ausgrenzen, verurteilen zu können.

Und bei dieser Betonung der Achtsamkeit wird manchmal der Eindruck erweckt, es gäbe keine Agenda, kein Weltbild dahinter. Kein Weltbild außer das „einfach nur“: einfach nur wahrnehmen, einfach nur präsent zu sein.

Aber in manchen Strömungen der Achtsamkeit lässt sich doch so etwas wie eine Agenda formulieren: „Stressabbau, Entschleunigung und die komplizierte Welt einfach mal sich selbst überlassen“ oder noch präziser: „innere Distanz“.
Distanz zu den eigenen Leidenschaften und zur hektischen Welt da draußen. Versuchen, einmal ganz „gelöst“ zu leben. Ohne den Dingen zu viel Wert zu geben, ohne den Dingen „anzuhaften“.

Das erinnert an die große „stoische Versuchung“: die Versuchung innere Ruhe und Ausgeglichenheit zu finden, indem man die Leidenschaften ausschaltet, indem man das Engagement ausschaltet und einfach nur Beobachter spielt.

Ist das nicht eine Form der Wahrnehmung, die genau das ausklammert, was es bedeutet Mensch zu sein: nämlich eben nicht distanziert zu sein, sondern leidenschaftlich involviert. Man ist einfach kein distanzierter Zuschauer, sondern immer schon Betroffener und immer schon Handelnder. Man ist immer zuerst Teil der Welt, hat aktiv Anteil am Leben anderer, bevor man überhaupt erst Distanz zur Welt gewinnen kann.
Ist die Achtsamkeit nicht eine Strömung,  die davon lebt, die Relationalität des Menschen auszuklammern: sein leidenschaftliches Verstricktsein in die Welt menschlicher Zusammenhänge?
Passt nicht vieles, was unter dem Stichwort der „Achtsamkeit“ firmiert, nur allzu gut zu einer politischen und möglicherweise auch zwischenmenschlichen Indifferenz?

Und: ist das nicht eine Form der Spiritualität, die nur allzu leicht verzweckt werden kann? Wer ganz konzentriert im Hier und Jetzt lebt, wer Distanz zur Hektik um ihn herum hat, der ist auch ein effizienterer „Wissensarbeiter“. Der lässt sich nicht so leicht von Facebook ablenken. Der kann „auftanken“, um dann frisch „durchstarten“ zu können. Und so gelten Mindfulness und „Emotional Intelligence“ als die beiden großen Soft-Skills in der Silicon Valley Tech Branche.

Ich gebe zu, dass das noch mehr eine Polemik darstellt, als eine echte Auseinandersetzung und sicher gehört zu einem gesunden Leben der Rückzug, das zur-Ruhe-kommen und das Abstandnehmen dazu. Nur stellt sich die Frage: ist der Rückzug ein Moment in einem leidenschaftlichen, kritischen und involvierten Leben oder verhält es sich andersherum so, dass das Desengagement, der Rückzug in eine Beobachterposition, als das „eigentliche“ verstanden wird. Während all das andere zum Störfaktor wird: die Hektik, die Unruhe durch andere Menschen, die „Welt da draußen“?

Die christliche Botschaft scheint doch zu sein, dass Gott eben kein distanzierter Beobachter blieb, sondern sich die Sache mal aus der Nähe angeschaut hat. So ist Gott nicht einfach der allwissende, allmächtige Beobachter und Lenker, nicht einfach der erste Beweger, nicht der distanzierte und ruhige Betrachter, sondern ganz involviert in die Welt.

Leidenschaftlich involviert.

Die Frage ist wäre hier also: wie sieht eine christliche Wahrnehmung der Welt aus?

Eine leidenschaftlich, involvierte Wahrnehmung statt einer distanzierten Wahrnehmung?

Zunächst einmal muss man sagen, was das Christentum nicht ist: Weltflucht. Es geht nicht darum in eine andere („eigentliche“) Welt abzutauchen. So ähnlich wie wenn man einen langen Fantasyroman liest und ganz in der Welt aufgeht. Es geht nicht um eine andere Welt, um eine metaphysische Hinterwelt, sondern darum diese Welt anders wahrzunehmen.

Wir brauchen also eine Spiritualität der geöffneten Augen.

Davon spricht Jesus in Lukas 11. Ich lese mal aus einer Bibelübertragung vor:

„Eure Augen sind das Licht des Leibes; sie erhellen den ganzen Leib. Wenn ihr mit weit geöffneten Augen lebt, dann füllt sich euer ganzer Leib mit Licht. Wenn ihr jedoch mit zugekniffenen Augen, misstrauisch und gierig lebt, dann wird euer Leib dunkel. Lasst eure Augen weit geöffnet, lasst eure Lampe brennen, so dass ihr nicht muffig und trüb werdet.“

In dieser etwas putzig wirkenden Passage, sind die Augen tatsächlich so etwas wie das „Fenster der Seele“. Aber nicht, weil sie unser wert- und geheimnisvolles Innenleben offenbaren, sondern weil sie die Möglichkeit sind, mit der Außenwelt in Kontakt zu bleiben; weil sie durch eine offene und wache Wahrnehmung den ganzen Leib erhellen. Die geöffneten Augen stehen also für eine Offenheit für die Vielgestaltigkeit des Lebens. Für eine affirmative Sicht des Lebens und der Welt. Und für eine neugierige Sicht auf die Welt.

Die Rede von den offenen Augen deutet in gewisser Weise auf eine naive Sicht der Welt. Naivität ist zu Unrecht in Verruf gekommen (siehe Kohelets Abgeklärtheit). Naivität muss nicht zuerst Unwissenheit und Arglosigkeit bedeuten, sondern „Gebürtlichkeit“: die Welt so zu sehen, als sei alles frisch, als sei nichts selbstverständlich. Die Welt so zu sehen, als sei sie nicht in Stein gemeißelt und würde nicht ewigen Gesetzen folgen. Stattdessen die Welt so zu sehen, als ob sie uns noch überraschen könnte. Oder so, als hätte etwas Neues in der Welt begonnen.

Und gleichzeitig heißt es, die Augen nicht zu verschließen, vor „dem Alten, dem Erwartbaren und Allzubekannten“ in der Welt: Ausgrenzung, Gewalt, Ungerechtigkeit, Hass, Langeweile, Angst und Indifferenz. Phänomene, bei denen man schnell den Eindruck bekommen könnte, diese hätten sich wirklich im Wesentlichen kaum geändert.

Und dieser Text weist mit der Rede von den zugekniffenen Augen auch auf etwas anderes hin: auf schädliche Sichtweisen und Weltbilder. Auf eine Sicht des Lebens, die uns verschlossen macht gegenüber der Welt und anderen Menschen.

Und über verschiedene Arten des schiefen Blicks soll es im nächsten Post gehen.

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